3 · Geheimnisse
Die Haustür knallte zu und die beiden Mädchen waren vorerst allein.
»Ähm. Hi! Du siehst ganz schön scheiße aus!«, brach Tessa das Schweigen und setzte sich zu Neko auf das Bett. »Sorry, so war das nich gemeint. Was zur Hölle ist dir denn passiert?«
»Er hat versucht, mich umzubringen.«
»Kiro hat was bitte?« Dunkelgrüne Augen wurden weit aufgerissen.
»Doch nich Kiro! Das Wesen, das das hier mit mir gemacht hat.« Neko legte die Einstichstelle auf ihrer Brust vorsichtig frei.
»Heilige Scheiße!« Das Mädchen zog völlig ungeniert das zerrissene Oberteil beiseite und entblößte damit Nekos kompletten Oberkörper. »Geht das ganz durch? Sieht aus, als wärst du aufgespießt worden! Scheiße, du hast auch schon sowas wie eine Blutvergiftung!« Über den Rand ihrer Brille inspizierte sie fachmännischdas kreisrunde Geflecht aus schwarz verfärbten Adern, das sich um die Wunde ausbreitete. Auch die Haut nahm bereits ein seltsames Dunkelgrün an.
»Kiro holt was, damit bekomm ich das schon wieder hin. Bis dahin musst du was für mich machen! Okay? Du musst die Stelle an meinem Rücken sauber machen. Das Stoffteil rausholen. Bevor Kiro wieder da is. Aber kein Wort zu ihm! Was du gleich siehst, muss unter uns bleiben! Mädels-Geheimnis. Versprochen?« Während sie auf eine Antwort warten musste, hüpften Nekos Augen ungeduldig zwischen den Sommersprossen hin und her, die dem Mädchen wie ein feuriger Sternenhimmel über Jochbeinen und Nasenrücken prangten. Fasziniert versuchte sie, kleine Sternenbilder darin zu erkennen.
Schließlich seufzte Tessa. »Ich find Geheimnisse zwar blöd, aber wenn's sein muss, meinetwegen. Versprochen.« Sie strich sich nervös eine ihrer feuerroten Locken hinters Ohr. »Was soll ich genau machen?«
Neko erklärte ihr die Prozedur mit dem Bügeleisen, zog das Oberteil ganz aus und drehte sich auf den Bauch.
Tessa, die sonst so gar nicht auf den Mund gefallen war, blieb der selbige jetzt offen stehen. »Wow ...«
»Ja, das sah vorne ganz genauso aus.«
»Du weißt, dass ich nicht die Stichwunde meine! Ich meine, Scheiße nochmal, sieht irgendwie voll hammer aus. Aber das hat doch bestimmt brutal wehgetan! Ein Tattoo is ja ein Dreck dagegen! Ich würde ...«
»Kannst du dich bitte beeilen und dich nur um das blöde Saubermachen kümmern?«
»Klar. Sorry, aber ich hab sowas noch nie gesehen.«
Dann genoss Neko die wohltuende Wärmebehandlung, während sie Tessa in Kurzform erzählte, was sie ist und was passiert war.
* * *
Kiro kletterte wieder durch das eingeschlagene Fenster in die alte Bibliothek. Neben den verbrannten Überresten des Attentäters lag die schwarze Klaue. Er wollte sie schon aufheben, als die zwei Türen seine Aufmerksamkeit erregten. »Was wollte Neko hier überhaupt? – Was hat sie dort oben gesucht?« Sein Bauchgefühl meinte, dass es nicht unwichtig war. Entgegen seinem Entschluss, so schnell es ging, wieder zurück zu eilen, folgte er dem Drang, es herausfinden zu müssen.
In dem Raum mit dem Kamin angekommen, roch er sofort die Süße von verbranntem Fleisch und machte auch die Quelle schnell ausfindig. Mit dem Schürhaken, der in der Feuerstelle steckte, zog er das Stück Arm heraus. Das metallene Kratzen, das er dabei hörte, ließ ihn nach dessen Ursprung stochern. Nach und nach angelte er die großen Buchstaben heraus. Erst ein „E", dann das „V" und das „A". – »EVA?«
Doch tiefer fand er noch zwei weitere: ein „R" und ein „S".
»Warum sollte jemand versuchen, Metall-Buchstaben zu verbrennen?« Als er in Gedanken vertieft das „S" in die Hand nahm, ließ er es sofort schmerzlich wieder fallen. Es war noch immer glühend heiß.
So, wie die Teile jetzt da lagen, schob sein Verstand auch noch das „R" an die scheinbar passendste Stelle.
– S
E V A
R –
»Zufall?«
* * *
»Serva? Heißt doch Dienstmädchen oder so. Das ist ja ein bescheuerter Name«, platzte es aus Tessa heraus. »Und Kiro hilft dir jetzt, dass du wieder Neko sein kannst? Woher kennst du ihn überhaupt? Ich hab dich noch nie gesehen. Bist du seine neue Flamme?« Bei ihrer letzten Frage drückte das Mädchen das Bügeleisen besonders fest auf.
»Kannst du auch nich. Ich kenn ihn doch erst seit gestern. Was meinst du mit ›Flamme‹?«
»Achso. Damit meine ich: Freundin! Also mit allem was dazu gehört und so. Aber hätt ich auch nich gedacht. Bist ja doch noch etwas zu jung dafür, was? Außerdem bist du eh nich sein Typ. Aber ich lag nach einem Tag noch nicht in seinem Bett. Hätte mich wohl auch abstechen lassen müssen ...«
»Woher kennst du ihn denn? Bist du denn seine ›Freundin‹?«
»War. – Aber das is schon sechsunddreißig Monate und zweiundzwanzig Tage her. Ich kenne ihn schon fast mein ganzes Leben. Wir sind schon zusammen in den Kindergarten gegangen und unsere Eltern sind gut befreundet. Ich wohne gleich gegenüber. Wir waren schon immer beste Freunde. Dann irgendwann waren wir beide in dem Alter, in dem auch du wohl grade bist. Ein ziemlich neugieriges Alter. Dann ist halt mehr draus geworden und wir haben viele schöne Erfahrungen zusammen gemacht, wenn du verstehst, was ich meine. – Aber dann haben wir schnell gemerkt, dass es unsere Freundschaft ganz schön verkompliziert und uns dazu entschlossen, dass wir das lieber sein lassen. Naja ... Mal unter uns beiden, ich vermisse diese Zeit doch ganz schön. Ich wäre gern mit ihm zusammen. So richtig! Immerhin sind wir ja jetzt auch schon viel älter. Das musst du aber für dich behalten! – Darf ich dich mal was fragen?« Tessa hatte inzwischen die Wunde gesäubert und auch den Stoff daraus entfernt.
»Wenn's nich um meine Narben geht, dann ja.« Neko drehte sich vorsichtig wieder auf ihren Rücken. »Und nur, wenn ich dir auch eine stellen darf.« Ein plötzliches Stechen in ihrem Kopf ließ sie ihre Augenlieder fest zusammenkneifen, bevor sie mit deutlich tieferer Stimme hinzufügte: »Und wenn du uns einen kleinen Gefallen tust, Süße.«
Tessas kurze Irritation darüber verschwand sofort wieder, als das Mädchen vor ihr ihre Augen blinzelnd wieder öffnete; sie darin die kleinen, roten Fünkchen hilfesuchend umherschwimmen sah. »Klar«, hauchte Tessa mit ungewollt entspannter Stimme. »Was du willst, Kleine.« Eine seltsam heiße Gänsehaut schüttelte Tessas Schultern durch. »Und fragt mich ruhig nach jedem schmutzigen Geheimnis. Könnt euch von der ollen Tessa bestimmt noch die ein oder andere Scheibe abschneiden.« Ein freches Grinsen und ein provokantes Zwinkern Richtung Neko. »Zu meiner Frage, wenn ich darf: Wenn ich bisher alles richtig verstanden habe, seid ... bist du quasi aus dem Ur-Element Feuer gemacht. Hitze gibt dir einen kurzen Energieschub. Würde es euch denn nicht weit mehr helfen, wenn wir dich einfach mal so richtig abfackeln!?« Ihre Augen blitzten bei dieser Idee mit einer so merkwürdigen Verrücktheit darin auf, dass selbst Neko kurz eine Gänsehaut bekam.
»Das wäre toll, aber auch bloß vorübergehend. Erstmal brauche ich das Ding, das Kiro mitbringt. Und ... solange wir noch allein sind ...« Neko tastete, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, mit den Fingerspitzen nach dem Lötkolben auf dem Nachttisch.
»Und was wolltest du mich fragen? – Lass mich aber erstmal das ganze Blut und die Asche aus deinem Gesicht wischen, ja? Ich hole schnell ...« Bevor Tessa aufstehen konnte, wurde sie von dem sanft lächelnden Mädchen am Handgelenk gepackt und zurück auf das Bett gezogen. Schon wurde ihr der Lötkolben in die Hand gelegt.
Neko drehte sich wieder auf den Bauch und kuschelte sich Kiros Kopfkissen bequem unter die Brust. Ihr feurig roter Blick, den sie verführerisch über die Schulter warf, ließ die verstummte Tessa schließlich wieder atmen, dann entspannt lächeln, dann nicken und den Stecker des Werkzeugs einstecken. »So ist's brav, meine Liebe. Zuerst zu unserem Gefallen.«
Schon verloren sich Tessas Augen wieder in denen des Flammenkinds. Je näher sie sich nun zu ihnen locken ließ, desto faszinierter weiteten sich Tessas Pupillen im Rhythmus ihres immer schneller klopfenden Herzens. »Wer seid ... ihr?«
* * *
Kiro betrachtete sich die Buchstaben, die da vor ihm auf dem von Blut besprenkelten und Asche übersäten Boden lagen. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Er war längst auf den Gedanken gekommen, woher die Buchstaben stammten. Mit einem Stück Holzkohle aus dem Kamin zeichnete er aus der Erinnerung den unvollständigen Namen über dem Haupteingang auf den Holzboden.
– CHRONO : ' : : CHI : : –
Er stand auf. Mit der Fußspitze schob er die fehlenden Puzzlestücke an ihren Platz.
– CHRONO S' AR CHI VE –
Als er das „S" von der Stelle wegschob, an die es noch glühend auf den Boden gefallen war, bemerkte er gleich die nächste Merkwürdigkeit.
Es schien sich etwas in das Holz eingebrannt zu haben. Eine Botschaft, die wohl auf der Rückseite des „S" eingraviert sein musste. Seltsamerweise nicht in Spiegelschrift, wovon er logisch ausgegangen wäre. Als hätte der Verfasser es genau so beabsichtigt. Kiro schnappte sich eines der kaputten Bücher und schrieb sich darin, mit dem kleinen Stück Kohle als Stift, den Text ab. –
„Gleich im Stile griechisch=römisch. Dein Name, meinem abgerung'.
Das was bleibt, gibt dir das Ding. Doch du musst umkehr'n, was verging.
Nutz das Signum eines Königs. Der Schlichter braucht sein speculum."
Kaum fertig, zückte er sein Handy und wählte die zuletzt angerufene Nummer erneut. Er kannte seine beste Option.
* * *
Während Kiros Freundin ihr mit einem warmen, nassen Lappen das Gesicht und die Haare akribisch von Blut und Asche befreite, ruhte der Blick des Flammenkindes einzig und allein auf Tessas anderer Hand. Diese hatte sich, ganz nebenbei, auf Nekos Bauch niedergelassen.
Genau genommen, betrachtete sie den hübschen silbernen Ring, den das viel zu hübsche Mädchen trug; den kleinen orangen Bernstein, der darin eingefasst war. Neko legte vorsichtig ihre eigene Hand auf Tessas und genoss die Berührung. Sie war warm und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Ihre Finger spielten beiläufig mit dem kleinen Schmuckstück.
»Neko? Träumst du? Wolltest du mich nicht auch was fragen?«
»Ja. Kann ich den mal kurz haben?« Sie starrte immer noch auf Tessas Ringfinger.
»Nein! Den nehme ich niemals ab! Der is von Kiro. Und ich habe mir geschworen, dass ich ihn für immer trage. War das schon deine Frage?«
»Nein. Eigentlich nich. Ich wollte wissen ...«
„Und wir tanzten im Schnee vergangenes Jahr
Der Mond funkelte sanft in deinem Haar
Und es tut auch kaum mehr weh
Wenn ich alles vor mir seh
Als ob's letzte Nacht ...",
unterbrach der Klingelton von Tessas Handy ihr Gespräch, bevor sie es aus der Tasche gezogen hatte und das Lied hektisch abwürgte.
»Ja? Kiro? Wo steckst du?«
»Bin noch in der Bibliothek. Also da, wo ich das Teil für Neko holen muss. Wie geht es ihr denn? Ist sie wach? Kümmerst du dich um sie?«
»Keine Panik. Ja, sie ist wach. Hab sie fein verarztet, soweit es ging.
Jetzt liegen wir hier halbnackt in deinem Bett und quatschen über Mädels-Kram. Wir warten hier nur noch auf dich. Moment, ich stell auf Laut ...«
»Ha-ha, du Ulk-Nudel. Pass auf, ich brauch deine Hilfe. Ich hab hier was entdeckt, das nach Rätselkönigin Tessi schreit. Ich glaube, es ist wichtig. Also keine Albernheiten. Verstanden?«
»Jawohl Sir!« Sie salutierte belustigt und streckte dem Handy, stellvertretend für Kiro, die Zunge raus. »Dann lass aber auch das blöde Tess-i! Ich hasse das! Wir sind ganz Ohr. Schieß los.«
»Neko? Kannst du mich hören? Die erste Frage geht an dich.«
»Ja, bin da. Wo soll ich denn sonst sein?« Neko verdrehte die Augen und brachte Tessa zum Grinsen.
»Gut. Ich bin hier oben, wo du vorhin warst. Ich habe herausgefunden, dass das Gebäude „Chronos' Archive" heißt. Sagt dir das was?«
»Klar. Ich hab ihn früher schon mal getroffen. Merkwürdiger alter Kautz.«
»Bei uns hier kenn ich ihn nur als Gott der Zeit oder so ähnlich. Liege ich da in etwas richtig?«
»Kann man so sagen. Aber das ›Gott‹ kannst du weglassen.«
»Dann halt dich fest. Ich glaube, er hat eine Nachricht für dich hiergelassen. Hab sie euch gerade geschickt. Ich weiß nur, dass es etwas mit diesem Gebäude hier zu tun haben muss, wegen den Buchstaben, die über dem Eingang fehlten. ›Chrono Chi‹, erinnerst du dich? – Tessa, hast du's bekommen?«
Ihr Handy vibrierte und sie öffnete das Foto von den drei Zeilen.
Sie studierte sie aufmerksam, bevor sie ihm antwortete: »Hab's grad gelesen. Hmm, auf den ersten Blick würde ich sagen, dass es tatsächlich eine Art Anleitung ist, etwas zu tun. Wenn deine Vermutung richtig ist, dann etwas in diesem Gebäude oder sogar in der Umgebung, wo du das gefunden hast. Was zu tun ist, ist wohl irgendwie in den ersten anderthalb Zeilen beschrieben. Ich muss mal kurz was zum Kritzeln suchen. Sag mir doch in der Zwischenzeit, was du siehst, da wo du bist. Und welche Buchstaben denn gefehlt haben.«
»Also gut. Eine Menge zerfetzter Bücher überall, einen riesigen alten Kamin, auf dem stehen zwei Leuchter und eine Kaminuhr. Einen monströsen Kleiderständer, aus Bronze glaub' ich, an dem ein Mantel hängt. Einen kaputten riesigen Spiegel, einen hässlichen Sessel, ein paar verstaubte Bilderrahmen an den Wänden, aber ohne Bilder darin. Zwei kaputte Stehlampen noch. Ansonsten nur Staub, Dreck ... und Blut. Und natürlich die fünf Buchstaben: S, E, R, V, A.«
Neko sah Tessa dabei zu, wie sie alles Wichtige nochmal auf einem Blatt Papier zusammentrug. Dann beugten sich beide darüber und fingen an zu grübeln.
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[„Gleich im Stile griechisch=römisch. Dein Name, meinem abgerung'.
Das was bleibt, gibt dir das Ding. Doch du musst umkehr'n, was verging.
Nutz das Signum eines Königs. Der Schlichter braucht sein speculum."]
CHRONO CHI
CHRONOS ARCHIVE
(Serva) S AR VE
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[Zitat "Klingelton", ASP – Und wir tanzten (Ungeschickte Liebesbriefe)]
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